49 Träume.


Zedong, Amalia, Adolf, Anne, Martin, Lee Harvey, Diana, Golda, Astrid, Neil … sie träumen. Das ist zunächst nicht so ungewöhnlich. Hat man allerdings eine oder einen von ihnen als Berühmtheit identifiziert, erkennt man schnell, dass es sich hier durchweg um Prominente handelt, die im Kindesalter porträtiert sind. Mark Tunkel hat sie rund um den Erdball gesammelt: Wissenschaftler, Musiker und Schriftsteller sind darunter. Bürgerrechtler, Widerstandskämpfer, Seliggesprochene und Astronauten. Politiker, Diktatoren, (Massen-) Mörder und Helden, Filmstars, Sexbomben und Medienikonen. Ohne Unterschied, ohne Wertung. Allen gemeinsam ist lediglich, dass ihnen etwas Tragisches anhaftet und dass sie tot sind. Und wir Fragmentarisches über sie wissen.


Dieses Wissen ist schwer zu vereinbaren mit dem, was wir sehen. Kleine ernste Gesichter, die manchmal leise lächeln. Kinder, die träumen. Wie sie da so aufrecht mit geschlossenen Augen sitzen, wirken sie seltsam entrückt. Weniger wie Kinder, die in wilden Fantasiewelten verweilen, als viel mehr kleine Erwachsene, die bewusst in sich gehen, die bereits Visionen, Missionen oder Ahnungen haben.


Fiktive individuelle Träume stoßen hier auf kollektive Erinnerung, Persönliches kollidiert mit Gesellschaftlichem. Daraus ergibt sich eine spannende Fragestellung:

Verweisen die Kinderporträts bereits auf das, was später kommt? Sind sie eine Antizipation auf heldenhafte, traurige, grausame oder aufopfernde Berühmtheiten? Und damit ihren Tod? Die Kinder scheinen gleichsam zwischen Leben, Erinnerung und Tod gefangen. Wie Gespenster schweben sie an der Wand. Forciert wird diese Assoziation durch die signifikante Farbgebung: Ein alarmierendes Rot und im Kontrast dazu blasse Schwarzweiß- und Sepiatöne, die auf alte Fotografien indizieren.


Mark Tunkels Serie verstört. Als Betrachter befinden wir uns in einer ambivalenten Situation. Einerseits wünschen wir uns, dass die Dargestellten als Kinder noch alle Möglichkeiten haben, noch unschuldig und glücklich sind, andererseits steht dem das Wissen um das adoleszente Leben entgegen. Evident wird die Problematik in besonderem Maße, wenn wir mit den Darstellungen von den Diktatoren und den Initiatoren der größten Genozide der Weltgeschichte konfrontiert werden. Sind wir überhaupt bereit, Adolf Hitler oder Josef Stalin eine Kindheit zuzugestehen? Oder würde eine solche Haltung deren späteres Handeln entschuldigen oder sogar negieren? Anders gesagt: Können wir zulassen, dass solche Monster mal liebenswert waren? Dass da mal Hoffnung war?


Wie verhält es sich bei Darstellungen von Menschen, denen wir Sympathien und sogar Verehrung entgegenbringen wie Norma Jeane Mortenson, besser bekannt als Marilyn Monroe? Von ihr wissen wir, dass sie eine schlimme Kindheit hatte: Ein ungewolltes Kind, das von der alkoholsüchtigen Mutter in Pflegefamilien abgeschoben, von ihrer Fürsorgerin in ein Waisenhaus verbannt wird. Wir können uns also gut vorstellen, was die kleine Norma für sich erträumt hat: sehr wahrscheinlich Liebe, Sicherheit, Aufmerksamkeit. Auch ihrem Aufstiegzum herrlichsten Glamour-Star aller Zeiten haftet etwas Tragisches an: Am Rande des Abgrundes balancierend ist Todessehnsucht ihr steter Begleiter. Und wieder scheint das Porträt Leben und Tod vorweg zu nehmen: Eine einsame Seele, die möglicherweise bereits als Kind spürt, dass sie scheitern wird. Und auch im Porträt von Anjezë Gonxhe Bojaxhiu, Mutter Teresa, ahnen wir vorausschauend Aufopferung, Verzicht, wohl aber auch innere Leere und eine Tendenz zur Legendenbildung.


Mark Tunkel manövriert uns sehr subtil in einen Zwiespalt. Einerseits besteht, wie bereits beschrieben, die Tendenz das, was wir über die Person wissen in das Kinderporträt aufgrund der speziellen Pose hineinzuinterpretieren und so gewissermaßen eine prophetische Haltung einzunehmen. Andererseits könnte es aber auch einfach so sein, dass es sich schlicht und einfach um Kinder handelt, die träumen. Und wir nicht wissen wovon und es auch nicht erfahren werden.


Ihre Stärke beziehen die Porträts aus ihrer Ambivalenz. Die Perspektiven, die wir gegenüber den Porträts einnehmen können, ähneln einem Vexierbild, indem die Wahrnehmung zwischen zwei gleich wahrscheinlichen Lösungen alterniert. Kompromisse sind nicht möglich, die Alternativen nicht gleichzeitig wahrnehmbar. So fluktuieren wir in unserem Bedürfnis verstehen zu wollen hin und her, die eine Interpretation negiert die andere. Daraus resultiert ein Vakuum, ein weißer Fleck des alles und des nichts Verstehens. Und daraus ergibt sich weiterhin das, was die Porträts so untergründig macht: Sie behalten ihr Geheimnis für sich.


Iris Schröder